Bertha der ehemaligen DDR ganz nahe
„Frei denken, frei sprechen.“ Das war der Titel des Schülerprojekttages am 17.11.2017, zu dem die Point-Alpha-Stiftung in Kooperation mit der Hessischen Landeszentrale für politische Bildung sowie der Hersfelder Zeitung in die Gedenkstätte Point Alpha in Geisa eingeladen hatte. Rund 300 Schüler aus Thüringen und Hessen kamen an dem Tag mit Zeitzeugen der DDR über das Leben im geteilten Deutschland ins Gespräch. Zehn Schülerinnen und Schüler der Bertha-von-Suttner-Schule der Jahrgänge 10, E- und Q-Phase, die zusammen mit den Lehrerinnen Ute Diefenbach und Annette Labusek aus Hessen angereist waren, kam hierbei eine besondere Aufgabe zu: Sie schlüpften in die Rollen von Reportern, Kamerafrauen – und männern, Moderatoren und Online-Bloggern. Bereits am Vortag bekamen sie bei einem Workshop in Geisa unter Anleitung von erfahrenen Journalistinnen und Journalisten Einblicke in verschiedene Teilgebiete des Journalismus und wurden auf ihre Aufgabe vorbereitet. Zur Dokumentation der Beiträge waren neben den Vertretern der klassischen Printmedien dieses Mal auch der Hessische Rundfunk und der Offene Kanal Fulda mit einem Kamerateam eingeladen. Abends erzählte die Zeitzeugin Kathrin Begoin von ihren Torturen im geschlossenen Jugendwerkhof Torgau. Der Beitrag wurde von unseren Schülerinnen und Schülern unter Anleitung gefilmt und ausgestrahlt. Im Anschluss erfolgte ein gemeinsames Abendessen im geschichtsträchtigen Schloss Geisa, in dem die Gruppe auch während des Workshops übernachtete. Am zweiten Tag trafen weitere Schülergruppen an der Gedenkstätte ein. Unsere Schülerinnen und Schüler teilten sich in zwei Gruppen auf. Während die eine Hälfte Zeitzeugen befragte, um im Anschluss Textbeiträge für die Thüringer Tageszeitung „freies Wort“ und den „Groß-Gerauer Echo“ zu verfassen, nahm die andere Hälfte an einer Podiumsdiskussion mit dem Zeitzeugen Alexander Müller teil. Das Gespräch wurde aufgezeichnet und in voller Länge gesendet. Wer an den beiden Tagen nicht live dabei war, konnte dem Geschehen im Blog der Schülerredaktion Alpha Aktuell, für den zwei unserer Schüler berichteten, folgen: t1p.de/AlphaAktuell. Einen sehr guten Eindruck darüber, wie unsere Schüler und Schülerinnen die zwei Schülerprojekttage erlebten, geben die in den Tageszeitungen veröffentlichten Artikel. Hier können Sie die ungekürzten Versionen lesen.
Annette Labusek Geschichtslehrerin
Ein eiskalter Schauer auf der Haut und die drückende Stille auf dem Weg zur Freiheit
Ein freies Leben, eine unbeschwerte Kindheit und die Möglichkeit seine eigene Meinung zu äußern, das ist doch was sich jeder wünscht. Leider ist dies nicht jedem möglich.
„Was ich sah, was ich sah, waren Gitter“, ein schrecklicher Gedanke. Dies sind die ersten Zeilen des Liedes „Mauern“, welches damals über Generationen überliefert wurde. Ein Anblick, der leider für viele Kinder und Jugendliche in der DDR Normalität war. Von einem Tag auf den anderen war nichts mehr so vorher. Ein schreckliches Leben hatte auch Kathrin Begoin. Sie wurde 1985 im Alter von 15 Jahren in den geschlossenen Jugendwerkhof Torgau eingewiesen, ein DDR-Kinderheim, ein Knast… Ihr Leben ist von einem Tag auf den anderen nichts mehr wert. Das Lied „Mauern“ singt Kathrin Begoin vor etwa 40 Schülern aus Thüringen und Hessen beim Projektag „Frei denken, frei sprechen“ in Geisa. In Torgau sang sie es damals leise und heimlich in ihrer Zelle, da das Sprechen den ganzen Tag verboten war.
An Wucht hat das Lied auch 30 Jahre später nicht verloren. Ein eiskalter Schauer überläuft mich, als sie dieses Lied singt. Ihre anfangs schwache Stimme wird immer stärker. Gedrückte Stille, leises Aufatmen und großer Applaus des Publikums, als die letzten Töne verklingen. Begoins Augen leuchten, sie lächelt. Doch wie kann eine Frau, die so Schlimmes erlebt hat, heute wieder lächeln? “Der Weg dahin ist lang“, so Kathrin Begoin.
Damals wurden die Jugendlichen wegen völliger Banalitäten weggesperrt, ein kritisches Wort, die falsche Gesellschaft genügten. Ihr Leidensweg begann mit einer vermeintlich falschen Frage der Eltern, die diese bei der Jugendhilfe in der DDR stellten. Die Behörden beschlossen, sie sei schwer erziehbar. Nach vielen Durchgangsheimen und Jugendwerkhöfen, in denen Kathrin Begion schon viel Drill erleben musste, hieß es, sie müsse nach Torgau. Doch was war das eigentlich? Schon bald war die Angst im Raum deutlich zu spüren, das Erlebte zu hören und die traurigen Augen zu sehen, die Verbindung zwischen uns Schülern im Publikum und Kathrin Begoin ist unbeschreiblich.
Ihre Worte werde ich nie vergessen.
„Eines Tages holten sie uns von zu Hause fort“, Die Einweisung und Prozedur, die sie durchleben musste, war ein Ereignis, das sie prägte. Die Dunkelheit war trotz der hellen Lampen im Raum zu spüren. Die Tage im Dunkelarrest waren das schrecklichste, denn selbst das Empfinden für Tag und Nacht wurde einem genommen. Die Jugendlichen waren der Macht der Erzieher unterworfen. „Abends sperrten sie uns in eine leere Zelle ein.“ Eingesperrt, verängstigt und alleingelassen, das war eine Zeit, die nur schwer zu verarbeiten ist. Ständige Befehle, Schreie, Schläge, Meldungen… Normalität. Doch was ist schon normal? Nichts als eine am Tage an die Wand geklappte Holzliege, ein Hocker und ein Eimer für die Notdurft, kahle und nasse Wände… Alles war überwacht. Das Desinfizieren des gesamten Körpers mit einer wie Feuer brennenden Paste, das Duschen mit eiskaltem Wasser, der Gang auf die Toilette, immer wurden sie von einem Erzieher beobachtet. Ständige Erniedrigung, war das Motto in Torgau. Erziehung im Kollektiv hieß es. Wenn einer versagte, wurden alle bestraft. Das Leben war einzig nur noch ein Überleben. Das Erwachen als Erlösung oder Bestrafung? Kein Gedanke galt mehr etwas anderem, nur noch das Überleben war einem vor Augen. Schrecklich und unbegreiflich. Die Kälte spürte ich überall, bis in meine Knochen, ich zitterte obwohl es im Raum warm war. „Mauern hoch wie Häuser, obendrauf noch Stacheldraht“ – Torgau, von außen nur ein Gebäude mit hohen Mauern, von innen schlimmer als ein Knast. Essensentzug, exessiver Sport, Gewalt, monotone Arbeit, wenig Schlaf, Unverständnis, sexuelle Übergriffe in den Dunnkelzellen, Demütigung… bis zur körperlichen und seelischen Erschöpfung. Vier Monate verbrachte Kathrin Begoin in Torgau. Eine Zeit, die bis heute tiefe Wunden hinterlassen hat.
Die DDR-Bevölkerung sollte nichts von dem Geschehen im Inneren erfahren, deshalb unterschrieben die Jugendlichen bei der Entlassung, dass sie gut behandelt wurden und mindestens ein Jahr schweigen. Die gute Behandlung war eine einzige Lüge. Kathrin Begoin schwieg fast 15 lange Jahre, auch gegenüber ihrer Familie. Bis heute hat sie ihrer Mutter nicht alles erzählt. Ich kann es ihr nicht antun, sie würde es nicht verkraften, so Begoin.
Das Ziel der Einrichtungen war es, die Jugendlichen völlig zu zerstören. Unvorstellbare Lasten fallen mit der Entlassung nicht einfach ab, für das ganze Leben wird sie sie bei sich tragen. „Man kann es nicht vergessen, nur lernen damit zu leben“, sagte eine unglaublich starke Kathrin Begoin heute. Sie erzählt uns ihre Geschichte, schreibt ihre eigenen Lieder und verarbeitet so das Erlebte. „Ach lass sein, ach lass sein und warte“ Warte, erlebe den nächsten Tag und überlebe. Wie konnte sie diese Ungewissheit, was noch kommen würde, aushalten? Meine Gedanken wirbeln bei ihren Erzählungen durcheinander. Wie unglaublich dünn muss die Grenze zwischen Leben und Tod gewesen sein? „Meine Freundin starb, in einer fürchterlichen Nacht“ Die Grenze zwischen Leben und Tod war fast durchsichtig, denn die schlechten Lebensumstände wie harte, monotone Normarbeit, Sport bis zur körperlichen Erschöpfung, das nicht ausreichende Essen und Trinken, der wenige Schlaf machten den Menschen kaputt. Ich höre ihr zu und fühle, wie mein Körper innerlich zusammensackt, ich aufrecht sitze. In Kathrin Begoins Stimme lag das Ungewisse. Einzig sie weiß, was und wie sie es erlebt hat. „Ich verstand, ich verstand, sie kommt nie wieder.“ Das Ungewisse, jemals eine Freundin oder einen Freund wiederzusehen oder eben nicht, muss kaum aushaltbar gewesen sein. Kathrin Begoin sah das Mädchen, mit dem sie nach Torgau gebracht wurde, nie wieder. Weg für immer, aus dem Leben gerissen und zerstört. Eine unfassbar grausame Handlung der DDR als Maßnahme für schwer erziehbare Kinder und Jugendliche. Eine harte Erziehung mit Staatsbürgerkunde, DDR Nachrichten, Respektlosigkeit und Misshandlung der Jugendlichen. Aus Sicht eines deutschen Jugendlichen aus heutiger Zeit nicht denkbar, leider ist es dennoch wahr. „Wenn du dann hier rauskommst, dann erkennt dich keiner mehr“ Die kurzgeschnittenen Haare waren nur das eine, aber die ganze Persönlichkeit ging verloren. Kein Strahlen, keine Angst, kein Ausdruck war mehr in den Augen zu sehen. Die Blicke der Jugendlichen waren leer und tot. „Warum sind sie grausam, warum sperren sie uns ein?“
Die Frage nach dem Warum beschäftigt mich seit dieser Begegnung unaufhörlich. Und das ist es wohl, was Kathrin Begoin sich von solch einem Abend erhofft, wenn sie mit uns allen für einen kurzen Moment nach Torgau zurückkehrt, in diese unmenschliche Kälte und Grausamkeit. Kathrin Begoins größter Wunsch ist, nach vorne zu schauen und sich so weiterzuentwickeln, wie sie es sich erträumt. Die meiste Kraft schöpfte sie in Torgau wohl aus den letzten Zeilen des Liedes „Mauern“. Sie sind voller Hoffnung und Wunsch nach Freiheit. Nach einem sehr langen und mühsamen Weg, der auch nach der Entlassung von Torgau steinig und hart war, konnte sie irgendwann zu sich selbst finden. “Ach lass sein, ach lass sein es geht vorüber. Ach lass sein, ach lass sein, es ist vorbei.“ Mir wird immer eine starke Frau in Erinnerung bleiben, die nach einem langen und nicht immer einfachen Weg ihr Lächeln und ihr Ich zurück gewonnen hat.
Anna-Victoria Lehnert, Klasse 12f
„Funktionieren, um zu überleben“
„Wir werden lebenslänglich haben- die Seele ist kaputt.“ Tränen schimmern in ihren Augen, als Sonja Sprößig diese Worte sagt. Sie ist eine der insgesamt sieben Zeitzeugen, die sich an diesem verregneten Morgen des 17. Novembers bereit erklären, vor den Schülern von fünf verschiedenen Schulen, offen über das Leid zu sprechen, das sie in den Kinderheimen der DDR erfahren mussten.
Ziel der Heime war es, die Jugendlichen zu einer „sozialistischen Persönlichkeit“ umzuerziehen. Torgau war dabei der einzige geschlossene Jugendwerkhof in der DDR und galt als „Endstation des Erziehungssystems“.
Sonja Sprößig kommt schon im zarten Alter von acht Jahren in das erste Kinderheim. „Mit acht Jahren…“, wiederholt sie bitter, denn bereits in diesem Alter sei man wie im Militär behandelt worden.
Auf den ersten Blick sieht man den Zeitzeugen nicht an, welche Qualen sie als Jugendliche hatten durchleben müssen, jedoch meint Kathrin Begoin, die einen Tag zuvor im Schloss Geisa ihre persönliche Geschichte erzählte, die Betroffenen würden sich untereinander deutlich erkennen. „Wir sind einfach anders als andere“, fügt sie schulterzuckend hinzu. Kathrin Begoin macht einen rebellischen Eindruck, sie hat viele Piercings im Gesicht, einen Side-Cut und rot gefärbte Haare. Als sie ihre Gitarre nimmt und sich die Qualen ihrer Kindheit von der Seele singt, rührt sie damit den ganzen Saal zu Tränen. „Ich habe am ganzen Körper Gänsehaut“, flüstert meine Sitznachbarin Dania Ahmad und als ich zu meiner Mitschülerin Shari schaue, sehe ich, dass ihr Gesicht tränenüberströmt ist. Besonders die Erniedrigungen in jeglicher Hinsicht, sei es ein quälendes Sportprogramm bis zur absoluten Erschöpfung, Essensentzug, konsequentes Redeverbot, Zwangsarbeit oder auch der Dunkel-Arrest, gehen uns allen unter die Haut. Noch heute können Katrin Begoin und Sonja Sprößig keine Dunkelheit ertragen, Katrin hat nach eigenen Angaben „immer Kerzen im Zimmer“. Auf die Frage, woher nach grenzenloser Erschöpfung noch die Kraft für all das harte Programm käme, antwortet Katrin Begoin, dass es einzig und allein der „Überlebensinstinkt“ sei und Alexander Müller, ein weiterer Zeitzeuge, bestätigt: „Man hat es geschafft, man hat es irgendwie geschafft, es ging ums Überleben“.
Auch die Kollektiv-Strafen führten wohl dazu, dass man weiter durchhielt, denn wenn einer versagte, wurde die ganze Gruppe bestraft und rächte sich anschließend nachts bei demjenigen, der nach 500 Liegestütze und 300 Torgauer-Dreiern (so wurde eine Übung genannt, die aus Liegestütz, Hocke und Hockstrecksprung bestand) dafür sorgte, dass alles nochmal wiederholt werden musste.
Die Zeitzeugen sind offen, ermutigen uns immer wieder, Fragen zu stellen, vielleicht, weil sie dieses lange betroffenen Schweigen nicht mehr hören können, weil sie es selbst zu lange ertragen mussten.
Der Zeitzeuge Alexander Müller tritt selbstsicher auf, er ist humorvoll und seine herzliche Art macht ihn sofort sympathisch. Mit elf Jahren kommt er erstmals in ein Kinderheim und durchläuft innerhalb von drei Jahren drei weitere Spezialkinderheime, bis er schließlich 1984 das erste Mal in Torgau eingewiesen wird. „Man fühlte sich immer entwurzelt“, so Müller. Freundschaften würden nie lange halten, weil man beinahe jedes Jahr in ein neues Kinderheim käme und irgendwann würde man deshalb auch die Lust daran verlieren, neue Freunde zu finden. Ein tiefes Schweigen erfüllt den Raum, während er seinen Leidensweg schildert. Mitten in seinen Erzählungen erwidert er wie beiläufig, es sei nicht „sein Naturell“, sich zu unterwerfen, nach außen hin habe er immer funktioniert, aber im Kopf, da habe er sich nie unterworfen. Auf die Frage, wie lange es gedauert hätte, bis die Erzieher es schafften, seinen Charakter zu brechen und ihn willig zu machen, antwortet er mit fester Stimme: „Wäre ich gebrochen, dann würde ich jetzt nicht hier sitzen.“ Sein Sarkasmus, der Versuch, alles ins Lächerliche zu ziehen und sein Glaube seien damals sein „Überlebensrezept“ gewesen. Bei dem Wort „Desinfizieren“ verdunkelt sich seine Miene schlagartig. Beim Desinfizieren mussten die Kinder eine Paste auf jede Körperregion auftragen, die „Wie Feuer brannte“ und nur auf Befehl des Erziehers mit eiskaltem Wasser wieder abgewaschen werden durfte.
„Den Mädchen wurden dabei die männlichen Erzieher zugeteilt und andersherum den Jungen, die weiblichen Erzieher“, berichtet Katrin Begoin bezüglich dieses Themas, woraufhin wir angewiderte Blicke austauschen und einige fassungslos den Kopf schütteln. Nach dem „Desinfizieren“ fühlten sich die Jugendlichen aber alles andere als rein, im Gegenteil, sie fühlten sich schmutzig und in Wirklichkeit war es auch nicht der Dreck, der damit verschwand, vielmehr war es ihre Würde.
Freiheit wurde nur noch zu einem Wort, welches einen Zustand ausdrückte, der unerreichbar erschien, der irgendwann für jeden selbst eine andere individuelle Bedeutung bekam und schon damit anfing, dass man seine Notdurft verrichten konnte, ohne dabei beobachtet zu werden oder sprechen durfte, ohne dafür bestraft zu werden. Doch wie konnte man diese Demütigungen und Misshandlungen jeden Tag aushalten? „Man musste funktionieren“ – sagen alle Betroffenen mit demselben ausdruckslosen Gesicht und leerem Blick.
Und doch waren viele Jugendliche dem Druck, der Erniedrigung und der sowohl psychischen als auch physischen Belastung nicht gewachsen. Sie versuchten alles, um zu entkommen, sei es nur für einige Tage. Manche sahen den einzigen Weg aus den täglichen Quälereien zu entkommen allerdings nur darin, ihr Leben zu beenden. Sie schluckten scharfe Gegenstände oder versuchten sich zu erhängen. Einmal habe ein Junge es sogar geschafft, ein Streichholz mit in die Dusche zu schmuggeln und sich anzuzünden. Die „Desinfektions-Paste“ schien ein guter Brandbeschleuniger zu sein und als andere Jugendliche den Erzieher panisch anschrien, er solle einen Krankenwagen rufen, verwies dieser lediglich auf die Brandordnung und befahl, alle sollen das Gebäude verlassen. Man habe die dumpfen qualvollen Schreie aus der Dusche auch draußen noch hören können, doch niemand der Jugendlichen habe die Erzieher überzeugen können, dem Jungen zu helfen. Dann war es auf einmal still. „Sie hätten ihn retten können“, sagt Kathrin Begoin leise, woraufhin ein entsetztes Stöhnen durch die Menge geht.
In Torgau war ein Aufenthalt von höchstens sechs Monaten vorgesehen, doch auch diese Regelung versuchte das Heim geschickt zu umgehen. „Man wurde in ein Auto gesetzt, ist eine Runde um das Gelände gefahren und wurde dann wieder neu eingewiesen“, erklärt Katrin die dreiste Methode, um die Aufenthaltszeit zu verdoppeln.
Waren die Jugendlichen schließlich achtzehn Jahre alt oder hatten „die notwendige Zeit abgesessen“, mussten sie ein Dokument unterschreiben, in dem stand, dass sie ein Jahr schweigen müssten und dass sie gut behandelt worden waren.
Das verächtliche Lachen, das einigen von uns entweicht, kommentiert Kathrin so: „Glaubt mir, man hätte alles unterschrieben, um da herauszukommen.“
Die Schweigezeit von einem Jahr wurde nicht gebrochen, zu groß war die Angst, wieder eingewiesen zu werden. Katrin Begoin schwieg vierzehn Jahrelang, andere schweigen ihr ganzes Leben, zu tief sitzen die grausamen Erlebnisse, zu groß ist die Scham, darüber zu sprechen, was damals geschah und hinter den Mauern niemand sah. Eingesperrt hinter Mauern, unüberwindbare Grenzen, doch die Grenzen beginnen schon im Kopf, wenn es heißt: „Zieh dich aus.“ und die Schamgrenze überwunden werden muss oder die Selbstbeherrschung zur größten Aufgabe wird und die Selbstachtung immer mehr verloren geht.
„Man war nicht mehr man selbst, wenn man entlassen wurde. Die Augen leuchten nicht mehr, man war ein gebrochener Mensch, lediglich eine leere Hülle seiner selbst, wie eine lebende Leiche.“ Viele der Jugendlichen nahmen sich auch nach dem Aufenthalt noch das Leben, andere leben bis heute am Existenzminimum, sind Alkoholiker oder können nur mit starken Psychopharmaka das Leben meistern.
„Man kann es nicht vergessen, man kann nur lernen, damit zu leben.“ Eine Aussage von Kathrin Begoin, der wohl alle Zeitzeugen zustimmen. Die ehemaligen Erzieher arbeiten mittlerweile als Altenpfleger, als Professoren an Universitäten oder mit behinderten Kindern zusammen, geringe Geldstrafen sind dabei die einzigen Konsequenzen, die einige Wenige von ihnen hatten leisten müssen. Den Zeitzeugen ist deutlich anzumerken, dass sie durch ihre Berichte aufklären wollen, dass sie alle dieselbe Nachricht zu verbreiten versuchen, die lautet: „Hört uns zu und sorgt dafür, dass so etwas nie wieder passiert“.
Celine Georg, 12f